Vogelfrei
Seit Wochen ist‘s jetzt schon dieselbe Szene:
Pantomime gegen leerende Gähne:
Nach langer Weile geht der Tag zu Ende,
du trittst hinaus, hebst dankend deine Hände,
du blickst hoch oben vom Balkon herunter,
winkend schneidest du Grimassen ganz munter.
Weil ich dich hier unten ja nicht hören kann,
obwohl ich eigentlich wohne nebenan.
Du willst mich erheitern, zum Lachen bringen,
damit ich wieder anfange zu singen.
Doch zu dieser Zeit muss ich mich verbiegen,
durch dreckige, schlierige Scheibe schielen,
um deine Späße wirklich zu erfassen
und dabei Grübeln und Zaudern zu lassen.
Lieber Freund, was soll ich dir denn berichten,
stumme, leblose, fad-graue Geschichten?
Es passiert doch nichts, man wartet und wartet,
Sekunden und Stunden sind gleichgeartet.
Der Sonnenschatten wandert immer weiter,
aber hier drinnen wird’s stickig statt heiter.
Man hüpft mal an den Wänden von rechts nach links,
ein Powerworkout ist anders, allerdings.
Man führt Gespräche via Telepathie,
doch so richtig funktionieren tut das nie.
Man wühlt mal im Stroh, schichtet es auf oder isst
grundsätzlich zu viel, als ob man dann vergisst,
dass man schläft, obwohl man gar nicht schlafen kann,
weil man rastlos ist und ständig fragt: Wie lang?
Auf unbestimmte Zeit die Nester hüten,
dabei über neuen Ideen brühten,
das ist es, wie man mir zu leben sagte,
als ich nach dem Zweck dieses Käfigs fragte.
Ein durchsichtiger Kasten mit vier Ecken,
in dem ich mich bloß mühsam kann verstecken,
meine Freunde nur in der Ferne ahnen,
dazu wehen unbewegliche Fahnen.
Damals schon und immer wieder hob ich an,
hoch zu flattern und zu fliegen dann und wann.
Doch es ist das eiserne Dach von oben,
das mich innerlich lässt wüten und toben.
Dumpf klingt mein Kopf an der vorderen Scheibe,
wenn ich so meine Stirn dagegen reibe.
Am liebsten hätt‘ ich, dass die Scheiben klirren,
dass ich wage, in den Lüften zu schwirren
oder dieses Hindernis zu besiegen.
Ich bin ein Vogel und ich möchte fliegen!
Du, mein lieber Freund, bist zwar noch anders dran,
hast’s nicht besser; wir ziehen an einem Strang:
Frau Vogel ohnmächtig betäubt weggesperrt;
Herr Specht, um dessen Baumstamm sich niemand schert.
Ich sehnsüchtig in Gedankenwelt dämmernd.
Du lustlos den Schnabel in Plastik hämmernd.
Jeden Abend passiert dann kontrollierend,
unser Wärter bedächtig patrouillierend,
ob wir auch brav die Weisungen befolgen,
geschrieben als neues Gesetz in Golden.
Es ist erlassen, zuhause zu bleiben,
Ausflug und Geschnatter möglichst zu meiden,
auf Brautschau und Pfauengang zu verzichten,
alle Segelflugpläne zu vernichten.
Deine Pantomime sieht vernünftig aus,
sie zeigt deutlich: Begreife doch, ich bin zuhaus‘
und mache täglich für mich das Beste draus.
Lieber Freund, das ist wirklich schön zu sehn
Und scheint für dich auch wunderbar zu geh‘n:
Lustlos, doch nicht ohne Sinn, sticht dein Schnabel
statt in Stamm, deine eigene Astgabel.
Und dabei kannst du sogar noch heiter sein,
bespaßt mich von oben sehend in ganz klein.
Doch Frau Vogel, verehrter Herr Nachbar Specht,
fühlt sich in diesen Tagen nicht wirklich echt.
Meine Natur verlangt, Federn zu heben,
mich flügelnd tragen zu lassen vom Leben,
Welten zu erkunden,
Wälder zu umrunden,
in Lüften zu kreisen,
Täler zu bereisen,
frei ein- und auszukehren,
das Vogelsein zu ehren.
Wie sollte ich glücklich mein Nest behüten,
fruchtbare Eier der Zukunft ausbrüten,
wenn die Brutstätte kein Rückzugsort mehr ist,
der Kasten aus Glas Privatsphäre vermisst,
der Deckel über meinen Willen bestimmt,
weil er mich zu unbegrenztem Stillstand zwingt?
Wie nur sollte ich zuhause glücklich sein,
wenn ich weder komme heraus noch herein,
mein Wesen gelähmt in schweren Ketten liegt
und es nur stumme Funken von Hoffnung gibt,
dass eines Tages die Barriere bricht,
das glühende Gesetz auf immer erlischt,
sodass ich dann wieder selbst entscheiden kann
auszufliegen, heimzukehren, wo und wann.
Wie sollte ich unbeschwert singen vom Glück,
dass ich mein Leben so sehr sehne zurück,
wenn man mich hinter Schloss, Glas und Riegel hält?
Deins ist das Heim, meins ist die Freiheit der Welt.
© Katrin Lohse, April 2020